Darmstädter Echo, 12.1.2001

Darmstädter Echo, 12.01.2001

Lokalredaktion Darmstadt

Sie heißen Schlampis. Sie sehen aus wie dicke, zottelige Kängurus und seit vier Tagen wohnen sie in den Schaukästen der Fußgängerunterführung Schützenstraße. Ob es ihnen dort gefällt, wird man nie mit Sicherheit erfahren, denn eine herausragende Eigenschaft der Schlampis ist, dass 'sie einfach sind". Diese Auskunft über die eigenartigen Plüschtiere gibt Anja Ohliger (33). Sie ist Mitglied der Gruppe 'osa" (office for subversive architecture). Das 'Büro für subversive Architektur" ist ein offener Zusammenschluss von jungen Stadtplanern und Architekten, die vor fünf Jahren zum ersten Mal in Aktion traten. Die zurzeit siebenköpfige Gruppe versteht sich als Schnittstelle zwischen Städtebau, Architektur und Kunst, und in dieser Funktion will sie 'Unorten, die Fürsorge geben, die sie eigentlich brauchen", sagt Ohliger. 'Unorte", das seien vernachlässigte Plätze, die Hoffnungslosigkeit ausstrahlen, und zu diesen gehöre - dem kann wohl kaum widersprochen werden - auch die Unterführung Schützenstraße.
Im August letzten Jahres hatte osa in den Schaukästen des Durchgangs eine kleine Wohnung eingerichtet (wir berichteten). '3ZKB" - 'Drei Zimmer, Küche, Bad" - nannten sie diese Aktion. Bewohnt wurden die Räume von einem virtuellen Zeitgenossen, der nur Spuren hinterließ. Als dieser auszog, nicht ohne eine Party zu veranstalten, hieß es dann: Nachmieter gesucht. Die Kästen wurden verhüllt, nur ein Guckloch zum Durchlinsen blieb, um neugierig zu machen.
'Einfach war es nicht, jemanden zu finden", erzählt Oliver Langbein (33). Von sich aus hat sich bis heute niemand gemeldet. Dann aber war osa auf die Schlampis aufmerksam geworden. Die kuscheligen Tiere sind eine Schöpfung der Künstlerin Simone van gen Hassend (33). 'Kontakt mit den Schlampis - Die Ausbreitung der Schlampis im gesamten Kosmos" ist der Titel ihres Projekts, das 1992 seinen Anfang nahm. Damals waren die Schlampis nur knapp vier Zentimeter groß. Mittlerweile haben sie eine Größe von drei Meter zehn erreicht. Bevor sie sich in Darmstadt niederließen waren sie in Münster, in Dietzenbach, in Dortmund und in Amsterdam zu sehen, Besuche in Berlin, New York und Tokio sind geplant. Mit Hilfe von Webcams, kleinen Kameras, die ihre Bilder ins Internet übertragen, werden die verschiedenen Ausstellungsorte miteinander verknüpft. So auch geschehen in den ersten drei Tagen der Schlampis in Darmstadt, als parallel eine Installation van gen Hassends in Karlsruhe stattfand. Bilder aus Karlsruhe und Darmstadt wurden per Webcam ausgetauscht.
Ziel der Künstlerin ist es, durch die Mischung von 'realen und fiktiven, zukünftigen und vergangenen Bildern" Raum und Zeit, zumindest scheinbar, zu durchbrechen.
In der Schützenstraße sind die Schlampis nun unübersehbare Realität. Im Schlafzimmer hat es sich ein blaues Exemplar gemütlich gemacht, ein weißes studiert im Arbeitszimmer den Sternenhimmel, ein gelbes sitzt im Wohnzimmer und blickt ganz zeitgemäß auf den Bildschirm eines Computers. Etwas eng scheint die Behausung für die neuen Bewohner zu sein. Der Passant sieht überwiegend Fell. Augen, Ohren oder die Nase sind meist auch zu erkennen. Einen Eindruck von der gesamten Statur gewinnt man nur auf den Bildern des Monitors. 'Sieht aus wie eine Wolldecke", sagt eine Passantin. 'Sehr behaglich", lautet ein anderer Kommentar. Und eine Frau meint: 'In diesem Zusammenhang wirken sogar die Graffitis schön." Die Aufwertung des öffentlichen Unorts scheint also gelungen.
'Wir wünschen uns, dass die Schaukästen auch nach dem Gastspiel der Schlampis weiter als künstlerisches Forum genutzt werden," sagt Bernd Trümpler (31), ebenfalls osa-Mitglied. Die eigenen Kräfte reichen aber nicht aus, um ständig Neues zu organisieren. Für Materialkosten habe man Sponsoren gefunden, aber die Arbeitszeit werde ohne Vergütung investiert. Vorausschauend sucht osa also jetzt schon wieder neue Interessenten, die den Schlampis nachfolgen werden.

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Darmstädter Echo, 12.1.2001