Frankfurter Rundschau - Feuilleton

Nischen überall

Berliner Architekturausstellung

VON MARCUS WOELLER

Architektur war immer die künstlerische Disziplin, die dem Wandel der Lebensverhältnisse eine physische Dauerhaftigkeit entgegengestellt hat. Nun sind die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse seit einiger Zeit auf deutlichem Beschleunigungskurs. Die Städte schrumpfen, kommunaler Wohnungsbau gehört der Vergangenheit an, die öffentlichen Kassen sind leer. Auch wenn die Aufmerksamkeit noch immer Stararchitekten gilt, deren Fähigkeit zum Selbstzweifel so ausgeprägt ist wie das Einhalten von Budgetplänen.

Dem gegenüber steht die riesige Gruppe junger Absolventen, deren einzige Chance darin liegt, sich den Bedingungen mit Kreativität und Nischenbewusstsein zu stellen. Bauen kann von den Architekten nicht mehr als Hauptaufgabe angesehen werden, sondern rangiert als eines unter mehrrangigen Zielen. Das Berufsbild definiert sich neu. Wer für die Lücken nicht büßen will, muss sie als sich öffnende Freistellen begreifen und engagiert zu nutzen verstehen. "Find the Gap. Neue Köpfe und Wege in der Architektur" heißt die Jubiläumsausstellung des Aedes Architekturforums in Berlin. Seit 25 Jahren widmet sich die einst erste private Architekturgalerie der Präsentation angewandter aber auch experimenteller Baukultur. Mit "Find the Gap" rücken die Kuratorinnen Kristin Feireiss und Ulla Giesler, eine Generation von jungen Architekten in den Mittelpunkt, deren Visionen die städtische Umwelt der Zukunft prägen werden.

Als Ausstellung scheint das Projekt zunächst nicht zu funktionieren. Schon den Eingang zu den Schauräumen zu finden, fällt schwer. Doch über den Umweg durch die Hintertür kommuniziert die Ausstellung bereits den Anspruch, dass auch die Erwartungshaltung an Architektur sich gravierenden Veränderungen unterziehen muss. Die Inszenierung des Raums soll nicht länger nur als visuelles Zeichen dienen, sondern die Funktion mit beeinflussen. Unter dieser Vorgabe hat das Berliner Büro "mesh design" eine neue Eintrittssituation für die Galerie geschaffen. Zuvor war es mit der visuellen Kommunikation der zentralen Ausstellung der Internationalen Bauausstellung IBA Fürst-Pückler-Land beschäftigt, für die Strukturwandel das beherrschende Formprogramm darstellt.

"Die Baupiloten", ebenfalls ein Team aus Berlin, sucht nach Möglichkeiten, die Bedürfnisse der Architekturnutzer stärker zum Thema des Bauens zu machen. Bei den Projekten für eine Kindertagesstätte und eine Grundschule arbeiteten sie mit den Kindern im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren zusammen, um deren Inspirationen, Wünsche und Anforderungen in den Bau einfließen zu lassen. Ein Grundgedanke vieler an "Find the Gap" beteiligten Architekten und Designer ist es, in lokalen Teams und Netzwerken zu arbeiten und so die bestimmende Organisationsstruktur Büro aufzulösen oder mindestens zu erweitern.

"Office for subversive architecture - osa" ist so eine offene Arbeitsgemeinschaft, deren Mitglieder an unterschiedlichen Orten Europas leben. Gemeinsame Projekte werden im Internet konzipiert und vorbereitet, um dann zu einem verabredeten Zeitpunkt realisiert zu werden. Ganz plakativ fokussieren sie bei Aedes auf die unterbewertete Stellung von Nischen: in die Fugen der Wandverkleidung stecken sie Geldscheine, die von den Besuchern mitgenommen werden sollen. Damit gestalten sie nicht nur ein variables Dekorornament, sondern appellieren gleichzeitig an die Neugier, ein Eingriffsrecht an der öffentlichen Gestaltung zu formulieren. Nischen finden sich überall. Ungenutzte Weichenstellhäuser lassen die Planer von "osa" mit Fassadenschmuck und Blumenkästen wie verkleinerte Einfamilienhäuser erscheinen. Den Drang zur Überpräzisierung im Zeitalter der Satellitenvermessung ironisieren sie - da, dort, hier entlang - mit einem temporalen Leitsystem unscharfer Ortsbegriffe.

Die Arbeitszelle "Team 444" besteht aus vier Münchner Architekturbüros, die gemeinsam gewohnte Baupositionen in Frage stellen. Normierte Niedrigenergiefertighäuser aus dem Katalog konfrontieren sie mit ihrer Version. Das "Haus_o" besteht aus Fertigteilen aus der Landwirtschaft kombiniert mit moderner Energietechnik. Den individuellen Innenausbau übernimmt der zukünftige Bewohner.

Nachhaltigkeit, Gebrauchsorientierung, Nutzereinbezug sind Stichworte, deren Einlösung von der neuen Architektengeneration eingefordert wird. Durch Improvisation, Teamspiel und Engagement kann sich ein neues Selbstverständnis der Branche entwickeln. Wenn also Architekten, Bauherren und Nutzer gemeinsam intervenieren, findet der beschworene Utopieverlust doch nicht statt.

Berlin, Aedes East Architekturforum: noch bis zum 11. Dezember 2005. www.aedes-arc.de

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Dokument erstellt am 20.11.2005 um 16:00:11 Uhr
Erscheinungsdatum 21.11.2005