Methode Architektur | Off-Architektur

Als archplus im Oktober 2003 mit den beiden Ausgaben Off-Architektur, archplus 166 Szenen und archplus 167 Netzwerke, den Versuch unternahm, ein neues Selbstverständnis der jungen Architektengeneration zur Debatte zu stellen, wurde bewußt auf den deutschen Kontext fokussiert. Denn aufgrund der spezifisch deutschen Strukturprobleme mit einer seit gut einem Jahrzehnt lahmenden Baukonjunktur sowie einem im weltweiten Vergleich einmaligen Überschuß an ausgebildeten Architekten, läßt sich der Entwicklungszustand dieser Generation am besten beschreiben.
Ausdrücklich offensiv formuliert der vorgeschlagene Begriff ‘Off-Architektur‘ eine erweiterte architektonische Praxis, die in der ökonomischen Misere, die weder zu bestreiten noch zu beschönigen gilt, eine Freiheit sieht, die nach Spinoza bekanntlich "Einsicht in die Notwendigkeit" ist.

Methode Architektur
Seit Beginn der Moderne bemühten sich Architekten immer wieder, aus den als zu eng empfundenen Grenzen der Architektur auszubrechen. Zumindest rhetorisch wurde beständig der Versuch unternommen, den Begriff Architektur zu erweitern – mittels Farbe, Form, Funktion etc. Am radikalsten erscheinen uns heute jedoch nicht die expressionistischen Großgesten eines Pölzigs oder Högers, sondern eher die programmatisch-sachliche Rationalisierung der Architektur. Am weitesten ging in dieser Hinsicht Hannes Meyer mit seinem Manifest "bauen" von 1928: "bauen ist nur organisation: soziale, technische, ökonomische, psychische organisation." Dieser Ausspruch wurde im allgemeinen als eine objektivistische Reduktion der Architektur kritisiert. Im Gegenteil ist dies die denkbar umfassendste Definition, die der Architektur zugeschrieben werden kann – auch wenn das Adverb "nur" darüber hinweg täuscht. Obwohl die Wendung hier noch mit dem Tätigkeitswort "bauen" verknüpft ist, so weist sie doch bereits unmißverständlich die Richtung, die die architektonische Praxis nach den vielen Ismen und dem Heilsversprechen im 20. Jahrhundert heute zu nehmen scheint. "Soziale, technische, ökonomische, psychische organisation" hat eine enorm politische Implikation und muß nicht unbedingt in einem gebauten Objekt münden. Vielmehr müßte es heute darum gehen, das "architektonische Denken" selbst (Rem Koolhaas) bzw. die 'Methode Architektur' auf andere Bereiche auszuweiten und anzuwenden. Es geht hierbei ausdrücklich nicht um subkulturellen Habitus des Offs, erwachsen aus der ökonomischen Misere, sondern um eine offensive Erweiterung des Tätigkeitsfeldes des Architekten, die durchaus durch eine Zwangslage induziert sein kann.

Als ein Beispiel für diese zukünftige Entwicklung hin zu einer kommunikativen Architekturauffassung könnte hier die Entwicklung von OMA/AMO aufgeführt werden: Kein anderes zeitgenössisches Büro praktiziert dies konsequenter und erfolgreicher, wobei die spiegelbildliche Konstruktion AMO genau dieses "architektonische Denken" bzw. diese architektonische Methode als Dienstleistung anbietet: von Unternehmungsberatung, über politische Beratung hin zu Modenschauen u.v.m. Es geht darum, das Büro als Forschungseinrichtung zu begreifen, welches aus einer spezifisch architektonischen Herangehensweise heraus an vorderste Front der zeitgenössischen Kultur arbeitet. Und dennoch hat OMA seitdem mehr gebaut als je zu vor. Daß AMO eine "Expansion" und kein Ausweichmanöver darstellt, wie Bill Millard es in einem Artikel für die kommende archplus 173 OMAMO beschreibt, ist bezeichnend. Bezeichnend ist auch die Tatsache, daß die Gründung dieser Expansion zeitlich mit dem Scheitern des, für das Büro Ende der 1990er Jahre wichtigen, Projekts Universal Headquarters zusammenfiel. Ist es vielleicht kein Zufall, daß Spinoza und Koolhaas beide Holländer sind? Wie schon Eingangs erwähnt, kann nach Spinoza wirkliche Freiheit nur aus der "Einsicht in die Notwendigkeit" entstehen – diese Einsicht kommt mitunter sehr schmerzhaft.
Off-Architektur
Die These der beiden erwähnten archplus Themenhefte war, daß die junge Generation diese Praxis bereits betreibt –bewußt oder unbewußt –, ohne sie jedoch inhaltlich und methodisch präzisiert zu haben. Viel zu oft wird diese Praxis ex negativo als Folge der wirtschaftlichen Situation begriffen: "Wir wollen aber on sein, nicht off!" war einer der häufigen Erwiderungen. Off-Architektur versucht die Argumentation umzukehren, um Perspektiven aufzuzeigen. Die Unsicherheit ist verständlicherweise groß und nur wenige stellen sich konsequent der notwendigen Veränderungen. Dennoch ist eines klar: Die Sicherheit, über Stile und Ismen zu diskutieren, über eine "richtige Architektur", wie dies im Beitrag von Jan Tabor zur tschechischen Etappe von Wonderland anklingt, scheint angesichts solcher Veränderungen in dieser Generation bereits lange obsolet.
Off-Architektur meint auch die Chance, aus dem Off den seit einem Jahrhundert immer wieder formulierten Anspruch, die Architektur gesellschaftlich und politisch zu betreiben, in die Praxis umzusetzen – aus dem Off den Zwang zu durchbrechen, bauen zu müssen. Denn das exzessive Bauen der Nachkriegszeit hat die Moderne all zu häufig zur "Modernisierungshilfe" degradiert, wie Nikolaus Kuhnert dies im Editorial der Off-Hefte formuliert hat. Es gilt, die eigene intellektuelle und kreative Arbeit nicht nur auf das Objekt, das Produkt zu reduzieren.

Was bedeutet diese Argumentation für die hier vorgestellten Teams, welche Positionen nehmen sie ein? Viele wurden in der "Off-Debatte" vorgestellt und bereits in archplus 166/167 publiziert: BeL, blauraum architekten, no w here, OSA, peanutz, urbikon, ü.N.N. Ohne weiteres hätten die übrigen Teams miteinbezogen werden können: blacklines, complizen Planungsbüro, jomad, Mr. Fung. Was sie alle verbindet, ist ein erweitertes Problembewußtsein, ist die Überschreitung des Gebauten, das dennoch selbstverständlich zum Repertoire gehört. Die Betonung liegt hier auf "selbstverständlich", denn sie lassen sich nicht nur auf das Nicht-gebaute reduzieren – wie die Auswahl hier auch zeigt. Dennoch gilt ihr Hauptaugenmerk der (kritischen) Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kultur, wie BeL es explizit formulieren. In einem provozierenden Manifest, das in archplus 166 erschien, haben sie es ausführlich dargelegt und damit auch ihre Fähigkeit, zu polemisieren, unter Beweis gestellt. Eine essentielle Fähigkeit, die nur noch sehr selten anzutreffen ist, die jedoch den Diskurs lebendig hält und vorwärts treibt.
Eine Gemeinsamkeit ist auch die Arbeitsstruktur und –methodik: "Off-Architektur bezeichnet eine neue Art von Netzwerkkultur. Von Hamburg bis Leipzig, von Köln bis Berlin schließen sich immer mehr Gruppen zusammen, die sich meist als 'lose Arbeitsgemeinschaften' sehen. Gleichzeitig bilden sich in den Städten Szenen: Eine kritische Masse an Architekten tauscht sich aus, tritt in die Öffentlichkeit, arbeitet vernetzt." Diese Beschreibung aus dem Editorial von archplus 166 trifft insbesondere auf OSA und blauraum zu, ist aber ebenso zutreffend für viele andere Teams. So beschreibt sich Mr. Fung selbst als Team, das die Disziplingrenzen bewußt überschreitet und den Blick von außen kultiviert. Bereits der Name Mr. Fung spielt mit dem Verweis auf die Popkultur; er klingt eher wie ein Musiklabel denn als ein ernstes Planungsbüro. Die Hemmschwelle wird somit bewußt für das nicht-professionelle Publikum niedrig gehalten. Auch das Merchandising von Mr. Fung T-Shirts via ihre Homepage ist ein solches Spiel mit den Mechanismen des Popgeschäfts.
Ein anderes Beispiel: Die unterschiedlichen Heimaten der Gruppe blacklines, Europa und Afrika, hat sie für ein globales Denken sensibilisiert. Sie widmen sich in einem Projekt dem Problem der Wasserknappheit, die zu den wichtigsten offenen Ressourcenfragen der Zukunft gehören. Dabei arbeitet blacklines mit dem Fraunhofer Institut zusammen, um ihren pragmatisch-poetischen Ansatz zu realisieren.
Die übrigen Teams, die hier nicht alle einzeln erwähnt werden können, arbeiten ähnlich, haben jedoch auch je unterschiedliche Schwerpunkte und Themen. Eines der Hauptthemen dieser Generation scheint die Auseinandersetzung mit der vorhandenen architektonisch-städtischen Struktur zu sein. Die Frage nach der Potentialität der Stadt, der Stadt als Lebensform, wird pragmatisch und nicht akademisch beantwortet. Die Beantwortung dieser Frage führt zu "situativen Praxen" (Wilfried Kühn, archplus 167), die u.a. in Zwischennutzungskonzepte vieler Gruppen wiedergefunden werden können. (Vgl. zu diesem Thema das Editorial von archplus 166 und Nikolaus Kuhnert, Off-Architektur, Katalog der Archilab-Konferenz 2004, Orleans)

Die fetten Jahre sind vorbei
"Die offene Struktur der Netzwerke ist aber auf den ersten Blick nur das Krisenmanagement miserabler ökonomischer Verhältnisse. Auftragslage und wirtschaftliche Aussichten lassen kaum noch langfristige Bindungen zu, geschweige denn eine feste Büroadresse. Die Gruppen leben von Broterwerbsjobs. Der eine jobt mal hier, mal dort, während der andere eine Stelle an der Uni hat und der dritte promoviert." (archplus 166) Kann man angesichts einer solchen Beschreibung noch ruhigen Gewissens eine 'Off-Architektur' proklamieren? Ist es nicht ein Pfeifen im dunklen Walde, um sich gegenseitig Mut zu machen?
Sicherlich ist die Gefahr der Selbstmarginalisierung in einer solchen Situation groß. Dennoch sollte uns klar sein, daß die fetten Jahre vorbei sind und auch nicht wiederkehren werden. Anstatt jedoch in eine typisch deutsche Depression zu verfallen, müssen wir unsere Möglichkeiten erkennen und unsere Claims offensiv abstecken. An Herzblut, Kreativität, Hingabe und Intelligenz scheitert es zuallerletzt.

Was jedoch notwendig ist und was das Beispiel AMO zeigen sollte, ist, daß die 'Methode Architektur' nicht nur die Perspektive eines Großbüros ist, sondern in nuce auch in den Praxen und Praktiken vieler der hier vorgestellten kleinen Büros zu finden ist. Dies ist das 'On' der vorgestellten Praxen, die nicht nur im ökonomischen Off beginnen und dort enden. Ansätze sind überall erkennbar, sie bedürfen aber einer bewußten Reflexion und Präzisierung. Hierin sieht archplus eine Perspektive, um die häufig anzutreffende Theorieblindheit zu überwinden und Wege zu sich selbst zu finden. Die Büros sollten dafür als Laboratorium, als Forschungsstation begriffen werden, um die 'Methode Architektur' weiterzuentwickeln.

Büroplus, Entwurfplus, Architekturplus
Es ist vielleicht diese Generation, die zum ersten Mal die Begriffe Konsum und Medien nicht mehr bloß als Schlagworte begreift, sondern ein adäquates Verständnis dafür entwickelt hat, um adäquate Antworten – nicht wiederum nur Bilder – für die Massengesellschaft zu finden.

"Ansätze eines Generationswechsels zeichnen sich ab. Er äußert sich zuerst und vor allem in der Frage des Berufsprofils und in der Frage, in welcher Form die Kommunikationsbedürfnisse der Massengesellschaften aufzugreifen sind. Und in Frage steht die Berufsperspektive von Architekten: Wird sich der Architekt zum Kommunikator und Mediator fortentwickeln, um den Kommunikationsanforderungen der entwickelten Massengesellschaften zu genügen, oder wird er der alte Generalist bleiben, der sich angesichts dieser Entwicklungen nur noch eine Windung weiter in sein Schneckenhaus zurückzieht. Die Frage der kommunikativen Kompetenz ist die erste Zäsur:

Die kommunikative Kompetenz beginnt im Kleinen. Büro ist nicht mehr das klassische Büro. Büro ist Ausstellungsraum, Diskussionsplattform, Bar. Büroplus.

Sie setzt sich fort mit dem Entwurf. Entwurf ist nicht mehr der klassische Entwurf. Entwurf ist kommunikativ, situativ und temporär. Entwurfplus.

Und sie endet nicht mit der Architektur. Architektur ist nicht mehr die klassische Architektur. Architektur ist kommunikative Architektur: Architekturplus. archplus.

Dieses Plusmoment eröffnet Perspektiven. Sie einzulösen wird Aufgabe der kommenden Debatten und Praxen sein." (archplus 166)

Anh-Linh Ngo

Anh-Linh Ngo ist Redakteur der Zeitschrift archplus und Gründungsmitglied von "MethodeArchitektur" (Berlin/Mailand)

Der Beitrag zitiert aus dem Editorial von archplus 166, Nikolaus Kuhnert, Susanne Schindler, Off-Architektur, S. 14 ff.; archplus 166 und 167, Off-Architektur 1 und 2, Szenen und Netzwerke, Oktober 2003